Die Schulen in Deutschland stecken in einer Krise, aber die Politik greift nicht durch. Wie sehr das System krank macht, offenbart jetzt „Das Lehrerzimmer“, ein Film von İlker Çatak. Er zeigt das Scheitern einer Pädagogin – und was passiert, wenn nichts mehr bleibt, als das völlige Durchdrehen.
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Mathematik, das macht sie bei zumindest manchen Schülern so verhasst, ist ein ziemlich gnadenloses Fach. Weil es nicht mit Verdacht operiert, nicht mit Mutmaßung, keine Unschärfen erlaubt und keine Ausflüchte. Weil es von einer Berechenbarkeit der Welt ausgeht und für diese Berechenbarkeit Beweise braucht, die wiederum bedürfen der Herleitung. So gesehen würde es nicht schwerfallen, „Das Lehrerzimmer“ zu hassen. Er ist ein ausgesprochen mathematischer Film.
Das mit dem Widerspruch zwischen Beweis und Behauptung, mit der Notwendigkeit einer logischen Herleitung für einen Beweis, erklärt Carla Nowak nämlich ihren Schülerinnen und Schülern gleich in der ersten Stunde, durch die wir sie in İlker Çataks Film „Das Lehrerzimmer“ begleiten dürfen.
Carla Nowak ist 29. Seit einem halben Jahr ist sie auf dem Emmy-Noether-Gymnasium (Emmy Noether war eine ganz fabelhafte Mathematikerin, die gegen alle Widerstände und ihrem inneren Kompass folgend, Anfang des 20. Jahrhunderts Abitur machte in Bayern und in den Zwanzigern in Göttingen gewissermaßen eine Kaderschmiede für fabelhafte junge Mathematiker gründete).
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Bei der Berechnung einer Formel, die Carla Nowaks Klasse sichtlich überfordert, bleibt allerdings eine Unschärfe übrig. Aufgelöst wird sie nicht. Den Verdacht, dass es im „Lehrerzimmer“ genau um das geht, um das exakt berechnete Durchdrehenlassen eines inneren Kompasses und eines vermeintlich rationalen, gerechten Systems, um eine Geschichte von der unmöglichen Berechenbarkeit der Welt, den konnte man schon haben, als alles begann.
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Das letzte Mal, als das deutsche Kino eine Schule besuchte, saß da im hessischen Stadtallendorf Herr Bachmann, der alte Rocker, mit seiner bunten Strickmütze in seiner siebten Klasse, in der sich die Herkünfte kreuzten. Drei Stunden dauerte Maria Speths Dokumentarfilm. Auf der Berlinale vor zwei Jahren erhielt sie den Silbernen Bären. Es war die epische, extrem ruhige Geschichte davon, wie eine Gemeinschaft gelingen und wie pädagogischer Idealismus und innerer Kompass und Menschlichkeit dazu beitragen können.
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„Das Lehrerzimmer“ – auf der diesjährigen Berlinale gezeigt, für sieben der Deutschen Filmpreise nominiert – ist das exakte Gegenteil von Speths ins Gelingen verliebtem, nichts verharmlosendem Film. Carla Nowak, mit der wir vom ersten Gemurmel an, das von der dunklen Leinwand kommt, ständig unterwegs sind, die wir überallhin begleiten, ist von Beginn an auf der Flucht.
Das hört man. Marvin Millers Pizzicato-Partitur macht das unmissverständlich, lässt das Fiebrige, das Zerbrechende immer wieder Klang werden, einmal hört man ein Orchester sich einstimmen, zusammenkommt es erst ganz am Schluss. Und eingesperrt ist Carla Nowak auch. In eine Kriminalgeschichte (was ja auch ein sehr mathematisches Genre ist) und in Judith Kaufmanns Bilder. Die spielen großartig mit Zimmerfluchten, Perspektiven, Unschärfen, spiegeln beinahe überpräzise Gesichter und was sich in ihnen abspielt. Sind aber ins strenge Kästchen-Format 4:3 gepackt, das eigentlich keine Ausflüchte lässt.
Die Kriminalgeschichte geht so: Im Emmy-Noether, das sich einer Null-Toleranz-Politik verschrieben hat, wird geklaut. Das geht schon lange so. Die Null-Toleranz nun ist das erste Prinzip, das İlker Çatak und Johannes Duncker, sein Co-Drehbuch und ehemaliger Mitschüler, als Beweis für das Mefistofelische des gesamten Systems Schule auf den Klassentisch bringen.
Es ist ein Prinzip, das bloß das Gute will und stets das Böse schafft. Und führt zum ersten Mal (der Film ist noch keine fünf Minuten alt) dazu, dass man in Leonie Beneschs unendlich eloquentem Gesicht, diesem Blick, dem immer ein Moment des Erschreckens innewohnt, sehen kann, wie in Carla Nowak alles allmählich zusammenbricht, was sie irgendwann eigentlich dazu gebracht hat, diesen Höllenberuf zu ergreifen.
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Der totale Spoiler
Sie sitzen da mit den Klassensprechern von Carlas Klasse – Thomas Liebenwerda, der eigentlich coole Kollege mit dem erzdeutschen Namen und offensichtlich afrikanischen Wurzeln, die Schulleiterin Dr. Böhm und Carla Nowak. Die Nerven liegen blank. Unverhohlen werden die Kinder zur Denunziation ihrer Klassenkameraden aufgefordert. Die Fragen sind suggestiv, so etwas wie racial profiling findet statt. Es kommt nicht mehr dabei heraus als ein vager Verdacht, nicht mal eine Behauptung, kein Beweis. Die sorgfältig konstruierte Maschinerie einer Systemsprengung beginnt zu laufen. Carla kann es nicht fassen.
Das Emmy-Noether ist übrigens keine Problemschule. Der Migrantenanteil liegt im Durchschnitt. Probleme schafft er augenscheinlich nicht. Was man sieht vom Gebäude, ist prima in Ordnung und ordentlich gepflegt. Hier muss keine Elternbrigade Wände anpinseln. Hier lernen Mittelstandskinder für ein Mittelstandsleben. Und trotzdem geht das Gutgemeinte schief.
Es wird – das ist ein genialer Trick – nicht nur ausschließlich aus der Nähe von Carla Nowak erzählt, sondern auch ausschließlich aus dem Innern des Emmy-Noether. Eine Außenwelt findet nicht statt. Alles, was geschieht, hat seine Ursache, seinen Ursprung im System. Und mit dem hochnotpeinlichen Erstverhör sind wir am unteren Ende der nach oben offenen Eskalationskala von İlker Çatak und Johannes Duncker. Jeder glaubt sich im Recht und als Kämpfer für Gerechtigkeit. Alle gehen gegen alle los. Alles steht, alle stehen unter Druck, ohne Druck gibt’s nicht mal Kaffee im Lehrerzimmer.
Die Schule als Gesellschaftslabor
Und mittendrin Carla Nowak, die lernen muss, dass einem der feinste moralische Kompass gar nichts nützt, wenn man umstellt ist von ungefähr gleich starken magnetischen Polen. Dann dreht erst die Nadel durch, dann absehbar man selbst. So ist das im Lehrbetrieb. So ist das allerdings heute überall. Die Geschichte der Carla Nowak ist nicht nur, weil Schule immer schon ein Gesellschaftslabor war, eine Geschichte, die weit über das Schulgelände hinausweist.
Es fallen keine Schüsse zum Schluss, „Das Lehrerzimmer“ ist kein Katastrophenfilm. Es wird nicht alles gut. Eine Unschärfe bleibt am Ende von İlker Çataks Rechnung. Dann streift Judith Kaufmanns Kamera durchs leere Schulgebäude. Das Orchester spielt Mendelssohns „Sommernachtstraum“. Das ist sehr hell. Sehr optimistisch. Und es ist bloß die Ouvertüre. Wollen wir das mal als gutes Zeichen nehmen.